Greifen, allein mit der Kraft des Denkens



Grazer Wissenschaftern gelang eine Weltsensation: Sie konnten einem Querschnittgelähmten seine Fähigkeit zum Greifen zurückgeben. Mit einem System, das allein durch Gedanken gesteuert wird, die ein Computer in elektrische Impulse umwandelt.

Graz/Wien – Urlaub auf Malta. Badeunfall. Der 22-jährige Thomas bricht sich das Rückgrat, sein Rückenmark wird zwischen viertem und fünftem Halswirbel fast vollständig durchtrennt. Seitdem ist der Steirer querschnittgelähmt: Er sitzt im Rollstuhl, kann den rechten Arm überhaupt nicht mehr bewegen. Links haben ein paar motorische Nervenstränge den Unfall vor fünf Jahren überlebt, sodass er den linken Arm heben kann. Hand und Finger sind auch links gelähmt.

Dennoch – heute kann Thomas wieder allein essen und trinken, benutzt dazu seine Hand und Finger. Möglich wurde dies, weltweit erstmalig, durch Forscher der Technischen Universität Graz unter Leitung von Gert Pfurtscheller, Vorstand des Instituts für Elektro- und Biomedizinische Technik: Sie kombinierten das “Brain-Computer-Interface” (BCI) mit der Elektrostimulation von Muskeln. Anders ausgedrückt – sie schufen eine Art Mensch-Maschine-Symbiose. Wie die funktioniert? Thomas denkt, der Computer rechnet, schickt elektrische Impulse, die Hand greift zu. Und lässt wieder los, wenn Thomas dran denkt.

Das Prinzip des BCI basiert auf zwei Tatsachen: Denken ist eine Nervenaktivität, die im Gehirn elektrische Ströme fließen lässt. Und diese sind mit dem “Elektroenzephalogramm” (EEG) messbar. Dabei nehmen Elektroden die Spannungen am Kopf ab.

Das Problem: Die Spannungen, die das EEG registriert, sind extrem klein, liegen bei Mikrovolts. Und das, obwohl die elektrische Aktivität in Nervenzellen des Hirns bis zu tausendmal größer ist. Durch Abstand bis zur Schädeloberfläche und anatomische Gegebenheiten werden die Signale jedoch geschwächt. Um solch kleine Spannungen zu messen, sind spezielle Verstärker notwendig – welche die Grazer erfolgreich konstruierten.

Die so verstärkten Gehirnströme werden an einen Computer weitergeleitet, der sie mittels spezieller Software in binäre Signale umrechnet. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Der Rechner splittet die eingehenden Hirnimpulse auf in “zugreifen” und “loslassen”.

So simpel funktioniert das System natürlich nicht, denn wie weiß der Computer, woran Thomas gerade denkt? Myriaden von Denk- und anderen Aktivitäten münden in eine Vielzahl unterschiedlicher elektrischer Signale, die das menschliche Gehirn in jeder Sekunde aussendet. Welches steht da fürs Zugreifen?

Zur Lösung dieses Problems bedienten sich die Forscher eines ungelösten physiologischen Phänomens: Etwa eine halbe Sekunde, bevor ein Mensch eine Bewegung ausführt, ändern sich die Hirnströme. Dieses nur wenige Millionstel Volt kleine, aber hoch spezifische “Bereitschaftspotenzial” zeigt an, dass der Mensch eine Bewegung plant: ein vom Computer identifizierbarer Impuls. Nun mussten alle Beteiligten lernen, diesen Impuls und anschließende Bewegungssignale zu koordinieren. Also lernten sie gemeinsam, Thomas und der Computer.

Gemeinsames Lernen

Der Rechner lernte über Datenbeispiele, die EEG-Muster von Thomas zu klassifizieren und entsprechend auszuwerten. Umgekehrt beeinflusste die mental gesteuerte Computerreaktion, auf einem Bildschirm sichtbar gemacht, die Gehirnaktivität von Thomas. Dieser musste lernen, “sein EEG bewusst zu beeinflussen”, erklärte Pfurtscheller Dienstag dem STANDARD. Dies gelang, indem sich der Steirer vorstellte, beide Füße zu bewegen, und erst danach an Handbewegung dachte.

Der letzte Schritt, die Stimulation der entsprechenden Hand- und Fingermuskeln, die sich mittels elektrischen Impulsen über Elektroden am Unterarm zum Kontrahieren und Entspannen anregen lassen, war dann leicht, diese Technik war vorhanden.

Die Greifsequenz erfolgt laut Pfurtscheller in drei Phasen: Zuerst öffnen sich die Finger, dann schließt sich die Hand und schließlich öffnen sich die Finger wieder – “Thomas muss nur konzentriert genau an diese Bewegungen denken”. Damit habe der Steirer ein großes Stück an Lebensqualität wiedergewonnen. “Das ist erst der Anfang”, konstatierte Pfurtscheller.

Für die alltägliche Praxis sei die Verkabelung zwischen Computer und Elektroden an Unterarm und Kopf außerhalb des Körpers nicht tauglich. “In einem Projekt mit den USA arbeiten wir daran, die Elektroden ins Gehirn zu implantieren.” Mitsamt fingernagelgroßem Sender und Verstärker, der die Denkimpulse über Funk nach außen leitet, an einen tragbaren Computer, der die Elektroden an den gelähmten Extremitäten steuert. Der erste Versuch soll in etwa vier Jahren erfolgen.

Copyright by derStandard.at und Andreas Feiertag, Oktober 2003
Mit freundlicher Genehmigung von Andreas Feiertag. Vielen Dank.





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kurios.at, 05. March 2004



Kategorie: Allgemein

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