Warum eine Britin 33 Jahre für ihren Führerschein brauchte
Das Dokument, mit dem sich Venida Crabtree den Traum ihres Lebens erfüllt hat, ist ungefähr so groß wie ein deutscher
Personalausweis und steckt in einer Klarsichthülle: Führerschein Nummer D 0929170, ausgestellt auf den Namen Venida Agatha Crabtree, erworben an einem makellosen Mittwoch im Sommer dieses Jahres.
Es ist, vermutlich, die teuerste Fahrerlaubnis der Welt. Venida Crabtree, 1955 auf St. Vincent in Westindien geboren, sitzt auf der Terrasse ihres kleinen Reihenhauses im Oxforder
Stadtteil Cowley und hält ihren Führerschein in der Hand. Sie arbeitet als Masseurin, ihr Mann Ralph fährt für UPS Pakete aus, 27.000 Pfund sind für die beiden ein Vermögen. Es sei nie eine Frage des Geldes gewesen, sagt Venida. Es gehe darum, nicht aufzugeben. Niemals.
Venida war 17, als sie ihre allererste Fahrstunde nahm. Pünktlich zum 18. Geburtstag, hoffte sie, würde sie den
Führerschein in Händen halten.
Das war 1972. Richard Nixon wurde zum Präsidenten Amerikas wiedergewählt, in München trafen sich die Sportler zu den
Olympischen Sommerspielen, Atari präsentierte das erste Videospiel der Welt. Bei der ersten Prüfung fiel Venida glatt durch. Sie ist ein nervöser Typ, und wenn sie einen Fehler macht, wird sie noch nervöser. Außerdem hasst sie Prüfungen.
Natürlich machte sie weiter. Venida fährt gern, aber ihr fehlte, so scheint es, mitunter das Gefühl fürs Auto, für den
Verkehr. Mal jagte sie den Wagen derart schnell über ein paar Bodenschwellen, dass es schepperte; mal nahm sie eine
Kurve so rasant, dass selbst der Fahrlehrer erschrak.
Jahre vergingen. Venida wechselte ein paar Mal die Fahrschule, aber sie lernte: einiges über Autos, viel über sich selbst.
Schuld, sagt sie, sind nie die anderen. Schuld ist man immer selbst. Und: Wenn man etwas wirklich will, kann man es auch
schaffen.
Je länger es dauerte, desto entschlossener wurde sie. “Ich wollte den Führerschein. Ich wollte nicht, dass die Leute mich
bemitleiden, weil ich aufgebe.”
Irgendwann hörte sie von Roger Coenen. Er ist ein freundlicher, höflicher Mann, der unter Fahrschülern als zurückhaltend
galt und als äußerst geduldig. Er wurde ihr Fahrlehrer Nummer sieben.
In Großbritannien regierte inzwischen Margaret Thatcher, der amerikanische Präsident hieß Ronald Reagan, die Welt hatte
sich verändert. Venida war, im Großen und Ganzen, dieselbe geblieben. Sicher: Sie hatte geheiratet und war wieder geschieden
worden, sie hatte anfangs in einem Krankenhaus gearbeitet und später eine Ausbildung zur Masseurin absolviert. Aber sie war
noch immer aufgeregt, wenn sie zu dem Prüfer in den Wagen stieg – und sie hatte noch immer keinen Führerschein.
Mit Roger Coenen traf sie sich wöchentlich zur Fahrstunde und ab und an zu einer Prüfung. Mal übersah sie eine Ampel,
mal vergaß sie den Schulterblick, manchmal fuhr sie zu schnell, häufig war sie zu langsam. Coenen schimpfte nie. 19 Jahre
verbrachten sie zusammen, sie wurden Freunde, Venida begann, sich auf ihre regelmäßigen Ausflüge mit Coenen zu freuen. Die
Fahrschule wurde Teil ihres Lebens.
“Ich bin eine gute Autofahrerin, jedenfalls sagen das mein Fahrlehrer und meine Prüfer”, sagt Crabtree. “Sie ist eine ganz
ordentliche Fahrerin”, sagt Coenen, inzwischen kurz vor der Rente, es klingt vorsichtiger, diplomatischer. “Gut” oder “ganz
ordentlich” – vielleicht macht das den ganzen Unterschied.
Dann kam der 6. Juli 2005. Am Morgen hatte Venida meditiert. “Beruhige dich”, wiederholte sie immer wieder, “konzentriere
dich.” Sie versuchte, sich das Auto vorzustellen, das Lenkrad, all die verdammten Knöpfe.
Dann betete sie. “Mach, dass der Prüfer mein Freund ist, nicht mein Feind.”
Es war ein herrlicher Tag. Sie kannte den Prüfer schon, weil sie bei ihm schon einmal durchgefallen war, die beiden
plauderten, er versuchte, ihr Mut zu machen. Die Sonne schien. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich gut.
“Sei ganz du selbst”, hatte ihr Mann am Morgen gesagt. “Entspann dich. Genieß es.”
Als die 45 Minuten endlich um waren, hatte der Prüfer 15 Schnitzer notiert, nur einen weniger als erlaubt, aber keinen
groben Verstoß. Venida hatte bestanden.
“Ich wusste, dass du es schaffen würdest”, rief Coenen, als sie sich ihm in die Arme warf. “Entschuldige, dass ich dich
so oft enttäuscht habe”, stammelte Crabtree, lachend, Tränen in den Augen. Dann umarmte sie den Prüfer. “Gott schütze dich, Simon.”
“Es war eine Riesenerleichterung”, sagt sie und schiebt den Führerschein vorsichtig in die Hülle zurück, “wie ein Gewicht,
das endlich von meinen Schultern genommen wurde – und von denen meines Fahrlehrers. Und von denen meines Mannes.”
Sie hat sich inzwischen einen Daewoo gekauft, fünf Jahre alt, kirschrot.
Die Fahrstunden vermisst sie jetzt schon.
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kurios.at, 03. November 2005 |
Kategorie: Allgemein
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